Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit Helmholtz-Zentrum Potsdam

Einsichten aus der Komplexitätswissenschaft: Mehr Vertrauen in Selbstorganisation setzen

16.02.2021

Globalisierung, Digitalisierung, Nachhaltigkeitsstabilisierung – diese weltweiten Mega-Transformationen sorgen für gesellschaftlich umfassende Umwälzungen. Daraus entspringen neue Strömungen wie etwa populistische Bewegungen, welche die Sicherheit gefährden und demokratische Werte infrage stellen. Welche Regeln und Institutionen können bei solch systemischen Risiken stabilisierend wirken? Eine Studie des Instituts für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) liefert überraschende Antworten.

Komplexitätsforschung Umgang mit systemischen Risiken
Für ihre aktuelle Studie haben die beiden Autoren, Thermodynamiker Klaus Lucas und Soziologe Ortwin Renn, die Ergebnisse der Komplexitätsforschung mit konzeptionellen Überlegungen über den Umgang mit systemischen Risiken kombiniert.

Die Corona-Pandemie hat erstmals gezeigt, wie ein systemisches Risiko über die globalisierte Welt hereinbricht: Zunächst  ist es ein kaum beachteter lokaler Ausbruch mit ersten Erkrankungen in Wuhan. Einer Lawine gleich verbreitet sich jedoch das Virus im Ursprungsland, zieht weiter in Nachbarländer und in der Folge schnell über den ganzen Globus. Aufgrund des Einflusses auf das Gesundheitswesen, den weltweiten Waren- und Fernverkehr, die Logistik und viele anhängende Branchen bringt ein zunächst lokales Ereignis die gesellschaftlichen Systeme weltweit an ihre Grenzen.

Dies ist charakteristisch für systemische Risiken: Sie sind komplex, vernetzt, zufallsabhängig, in hohem Maße nichtlinear und können zu Kipppunkten führen, die komplexe Gesellschaftsgefüge bedrohen.

Wie reagieren Menschen darauf? Ein Großteil der Bevölkerung vertraut weiterhin auf die Verlässlichkeit der gesellschaftlichen Institutionen und hält sich an die Pandemie-Regeln. Es gibt jedoch Bevölkerungsgruppen, die  das Vertrauen in diese Institutionen verloren haben, den offiziellen Verlautbarungen keinen Glauben schenken, hinter allem „finstere Mächte“ ausmachen und sich populistischen Bewegungen anschließen – befeuert von sozialen Medien. So kann die öffentliche Meinung von Teilen der Gesellschaft plötzlich unerwartet in eine andere Richtung kippen und sich dadurch in zwei Lager spalten. Derartige Veränderungen,  beflügelt durch ein systemisches Risiko wie etwa eine Pandemie, können zu einer Bedrohung der Vielfalt und des Zusammenhalts von offenen Gesellschaften werden.

Komplexitätsforschung und die großen Transformationen

Für die Studie 'Systemic Risk: The Threat to Societal Diversity and Coherence' haben die beiden Autoren, der Thermodynamiker Klaus Lucas und der Soziologe Ortwin Renn, die Ergebnisse der Komplexitätsforschung mit konzeptionellen Überlegungen über den Umgang mit systemischen Risiken kombiniert. Denn die drei großen Transformationswellen – Globalisierung, Digitalisierung und Nachhaltigkeitsstabilisierung – führen zu ähnlich tiefgreifenden Veränderungen und Verwerfungen wie durch die Corona-Pandemie.

Beispiel: Globalisierung mit Nationalismus begegnen?

Im Fall der Globalisierung kommt es in immer größeren Teilen der Gesellschaft zu Gegenbewegungen, die für eine Wiederbelebung nationaler und häufig ethnisch definierter Politiken mit dem Ausschluss des angeblich Fremden sowie der Einführung protektionistischer Handelspolitik eintreten. Gleichzeitig erfolgt eine Erosion des Vertrauens in gesellschaftliche Institutionen – allen voran in die demokratischen Säulen Parlamente, politische Parteien und Justiz. Immer öfter finden populistische Bewegungen großen Zuspruch, mit dem Ergebnis einer zunehmenden Polarisierung der Bevölkerung.

Ein ähnlich destabilisierendes Moment ruft die Digitalisierung hervor: Während ein Teil der Gesellschaft von hohen Komfort- und Effizienzgewinnen profitiert, leidet ein anderer unter Einschränkungen der persönlichen Freiheit und Identität, möglicherweise lediglich „gefühlten“ Einschränkungen. Dazu kommt die  Konzentration von digitaler Wirtschafts- und Gestaltungsmacht auf nur wenige große Akteure, die ihre eigenen Interessen ohne ausreichende demokratische Kontrolle durchsetzen können. Während digitalisierte Prozesse demokratische Strukturen einerseits durch erhöhte Transparenz oder den erleichterten Zugang zu politischer Partizipation stärken können, stehen Echokammern und Bots wiederum für Entwicklungen, die Polarisierung verstärken und den für demokratische Willensbildung unerlässlichen gesellschaftlichen Diskurs behindern.

Die dritte Welle der Transformation ist die der „Nachhaltigkeitsstabilisierung“, so nennen es die Autoren und verstehen darunter den Prozess, nachhaltige Prinzipien und Entwicklungen in die Bereiche Politik, Wirtschaft und gesellschaftliches Verhalten einzubringen, was zu ähnlichen Brüchen, Widersprüchen und damit verbundenen Risiken führe. Vor allem kann diese Stabilisierung  Konflikte mit den beiden anderen großen Transformationen herbeiführen.

Die hier angerissenen Transformationsprozesse setzten laut Renn und Lucas gesellschaftliche Prozesse in Gang, die eine Anpassung an neue Lebensbedingungen nach sich ziehe und somit als systemische Risiken zu klassifizieren seien. Der jüngste Erfolg politischer Parteien, die es vor fünf Jahren noch nicht gegeben habe, sowie der Niedergang etablierter Parteien in vielen europäischen Ländern wie in Griechenland, Frankreich und Italien seien ein Beleg dafür.

Der Ausweg aus diesem Dilemma

Die Studienautoren argumentieren, dass Merkmale, die komplexe Strukturen in vielen Bereichen von Natur, Technik und Gesellschaft charakterisieren und beeinflussen, sich aus grundlegenden Mustern ableiten lassen, die bereits in dynamischen Modellen in der Physik und der Chemie nachgewiesen wurden. Sie haben die Erkenntnisse aus der Komplexitätsforschung auf die Struktur sozialer Risiken angewendet und kommen so zu den bekannten sozialen Steuerungsmechanismen Hierarchie, Konkurrenz und Kooperation. Doch hinzu kommt als neuer Mechanismus das Prinzip der Selbstorganisation. „Ihre Wirkung wird in fast allen Theorien der Sozialwissenschaften unterschätzt“, sagt Prof. Ortwin Renn, Direktor am IASS.

Auf das aktuelle Thema Migration und Integration angewandt, bedeutet diese Erkenntnis, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht allein durch Regeln, Wettbewerb oder Wertegemeinschaft bewirkt wird, sondern dass unter bestimmten Voraussetzungen neue Elemente durch Selbstorganisation zur grundlegenden Funktionalität des Systems beitragen können, also etwa zur wirtschaftlichen Entfaltung oder zu kulturellen Leistungen. Das setzt aber voraus, dass neu eintretende Personen alle Kooperationsmöglichkeiten erhalten, die sie zur Entwicklung und Entfaltung ihrer Potenziale benötigen. Denn die Komplexitätswissenschaft zeige, dass kreative Lösungen und ungewöhnliche Anpassungsprozesse oft aus den Elementen entstünden, die sich neu in eine bestehende Struktur einfinden und mit ihren kreativen Anpassungsprozessen innovative Leistungen fürs System erbringen.

Gleichzeitig sollten die Regeln des Wettbewerbs und der Hierarchie als Leitplanken des ansonsten breiten Entwicklungskorridors zur Geltung kommen, sofern die aus Selbstorganisation entstandenen Kooperationen im Sinne der Stabilität des Systems nicht weiterführen oder kontraproduktiv werden. Dies impliziert, dass Kooperation ohne Hierarchie und Konkurrenz durchaus den Zusammenhalt verhindern oder gefährden könne. Aus Sicht der Komplexitätswissenschaft ist es für die Stabilität eines Systems unabdingbar, wichtige Regeln für Interaktionen vorzugeben, um die kreativen Möglichkeiten der Selbstorganisation zu begrenzen, Handlungen aber nicht vorzuschreiben oder an Bedingungen zu knüpfen, die den Korridor innerhalb der Leitplanken übermäßig einschränken.  

Das System muss dabei so beschaffen sein, dass sich Beziehungen im Prozess der Selbstorganisation auch in noch nicht vorgezeichneten Pfaden entwickeln können, dass sie zumindest im statistischen Mittel erfolgreiche Anpassungsprozesse an veränderte Bedingungen nach sich ziehen und aufrechterhalten.

Ethische Absicherung durch hierarchische Umsetzung der Grundwerte

Die Autoren empfehlen als Leitplanken die Grundwerte, die in den Verfassungen der jeweiligen Länder verankert sind und die Bürgerrechte der UN-Charta. Diese stellen Grundprinzipien der menschlichen Existenz und des Miteinanders dar. Zusammen mit den Grundwerten sei auch die Geltungskraft der regelgebenden und -kontrollierenden Institutionen unabdingbar. Damit kooperative Modelle entstehen und gedeihen könnten, bedürfe es des Vertrauens in die Verlässlichkeit des Governance-Systems, das sicherstellt und bei Bedarf durchsetzt, dass sich alle Akteure an die Regeln halten und Verstöße geahndet werden.

In Anbetracht von Krisen in modernen Demokratien wie Migration und Populismus seien systemoffene, auf Selbstorganisation und spontane Kooperation beruhende Muster  dynamischer Strukturbildung eine wesentliche und für die Weiterentwicklung von Systemen notwendige Bedingung für eine langfristige Nachhaltigkeitsstabilisierung. Damit seien kreative und innovative Lösungen für die unvermeidbaren Konflikte und Brüche innerhalb und zwischen den globalen Transformationen eher zu erwarten, als wenn nur auf Kooperation im Rahmen von Wertegemeinschaften und auf Hierarchie und Wettbewerb gesetzt würde. Allerdings benötige eine wirksame Selbstorganisation einen Rahmen mit Leitplanken auf der Basis von grundlegenden Regeln (Menschenrechte) und eine innovationsfördernde Regelung des Wettbewerbs.

Publikation:
Renn, O. and Lucas, K.: Systemic Risk: The Threat to Societal Diversity and Coherence. Risk Analysis, 1 (2021). DOI: 10.1111/risa.13654
 

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Sabine Letz

Sabine Letz

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